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Ritsue Mishima

Früchte des Feuers

Innerhalb der zeitgenössischen venezianischen Glasszene ist das Werk der japanisch-italienischen Künstlerin Ritsue Mishima eine Ausnahmeerscheinung. Ihr Markenzeichen sind intuitive, farblose Glasobjekte mit auffallend rauher, manchmal verspielter Oberflächenbearbeitung. Mit der bewussten und provozierenden Beschränkung der Möglichkeiten nimmt sie eine besondere Stellung innerhalb der italienischen Glasproduktion ein, die als farbenprächtig und perfektionistisch bekannt ist. Ihr inzwischen eindrucksvolles Werk lässt sich als vielfältige Demonstration der klassischen Techniken des Glasblasens und der Dekoration lesen. Ihr Werk basiert im Grunde sehr wohl auf der Tradition dieses berühmten Glasbläserzentrums.

Ritsue Mishima kam über Umwege zur Gestaltung von Glas. Ihr künstlerischer Werdegang begann 1982 als Designerin für japanische Anzeigen-Firmen. 1989 vergrößerte sie ihr Spektrum zum Kreativeren hin, indem sie Rauminstallationen und Blumen zusammenbrachte. In diesem Jahr zog sie auch nach Venedig, wo sie 1996 mit Glaskunst anfing. Die vergebliche Suche nach der idealen Vase führte unausweichlich zum eigenen Entwurf. Die ersten Versuche brachten sehr klassische Formen hervor: verspielte und zugleich anmutige Designervasen mit einem Fuß, hervorragend geeignet zum Arrangieren von Blumen. Schnell war ein persönlicher Charakter zu entdecken, die Vasen entwickelten sich stärker in Richtung Objekt. Sie wurden größer und schwerer und viele Vasen erregten durch technische Meisterschaft und visuelles Schwergewicht Aufmerksamkeit.

Oft entsteht Mishimas Arbeit ohne Plan. Selten oder nie gibt es ausgearbeitete Entwürfe, die von den Glasbläsern genau umgesetzt werden. Mini-Tonmodelle, die Mishima parallel zum Blasen anfertigt, dienen dem Glasbläserteam als Orientierung. Während des Arbeitsprozesses entscheidet sie gemeinsam mit ihrem Team; die Zusammenarbeit ist eng und intuitiv. Die Energie, die während des Arbeitsprozesses freigesetzt wird, sieht man jedem einzelnen ihrer Objekte an. Ritsue Mishima verfolgt jeden einzelnen Schritt des Entstehungsprozesses genau und greift kontinuierlich in die Arbeit ein, um den Entwurf zum Leben zu erwecken.

Mishima bezieht ihre Inspiration – folgt man den assoziativen Titeln ihrer Arbeiten – hauptsächlich aus der Natur und dem Kosmos. Manchmal sind es die Glitzerhaut von Fischen oder das vergrößerte mikroskopische Meeresleben. Manche Formen sind durch aufgehende Saat, verwitterte Baumstämme und exotische Früchte inspiriert. Daneben gibt es auch Objekte, die Unheil verheißende Meteoriten, den Vollmond oder den funkelnden Sternenhimmel zeigen. Schließlich haben wir es mit Arbeiten zu tun, die scheinbar eine bestimmte Witterung oder einen Schritt des Werkprozesses thematisieren. Darüber hinaus ist natürlich das venezianische Licht als Inspirationsquelle stets präsent und ist Mishimas japanischer Hintergrund stets fühlbar.

Bemerkenswerterweise lässt sich ihr Werk, an dem sie seit fast 15 Jahren arbeitet, nicht als lineare Geschichte erzählen. Nicht jede neue Arbeit ist als Entwicklung früherer Werke zu sehen. Jedes Objekt steht allein für sich und seine Form gibt scheinbar einem ganz spezifischen Gefühl Ausdruck.

„Wie kann ich meine Gefühle erklären? Dank an Glasbläser, Sand und Feuer, alles spielt zusammen, wenn man Glas macht. Es verbindet sich in einem Rennen gegen die Zeit, und eine Form bildet sich heraus. Der konstante Rhythmus von Material und Bearbeitung beim Glasblasen erfüllt mich immer wieder aufs Neue mit Spannung und Leidenschaft.“

Ritsue Mishimas Werk schwankt zwischen sanftmütig wogend und wollüstig brutal. Jede Arbeit hat eine einfache Innenform als Ausgangspunkt. Drumherum ergänzt Mishima neue Schichten und schließlich Dekorationen. Dies können geometrisch geformte Stacheln oder flachgedrückte Tropfen sein oder auch grober Glasstaub oder Schlieren, die ringförmig oder schlangenartig angebracht werden. Sie benutzt auch klassisch venezianische, heiße Dekorationstechniken, etwa mit der Zange geformte Flügel. Jedes Stück ist erst nach einer ausführlichen Nachbearbeitung in ausgekühltem Zustand fertig – Form und Oberfläche sind dann einzigartig. Viele Stücke werden ausführlich geschliffen oder poliert, wodurch das Licht jedes Mal wieder anders wirkt.

Seit Jahren erhält ihr Werk internationale Anerkennung, wie die große Anzahl von Ausstellungen und Preisen zeigt. In immer mehr privaten und öffentlichen Sammlungen ist sie präsent. Obwohl die Vasen Unikate sind und jede für sich steht, arrangiert Mishima mit ihnen sorgfältig Installationen. Sie analysiert die Räume, in denen die Vasen gezeigt werden, im Vorfeld intensiv. Dann entwirft sie ein Konzept, bei dem jede für sich und alle zusammen eine Raumkomposition bilden. Dabei spielt das Licht eine wichtige Rolle. Mishima steckt viel Energie in die Ausarbeitung der Oberflächenstrukturen und dreidimensionalen Dekorationen; sie überlegt vorher genau, wie sich das Licht im Objekt zeigen und wie dieses dadurch wirken wird.

In wirtschaftlich schwierigen Zeiten – viele der venezianischen Glasbläsereien mussten schließen – sieht Ritsue Mishima es als ihre Pflicht an, das traditionelle Handwerk in Murano am Leben zu halten. Zunehmend experimentiert sie mit neuen Formen und Dekorationen, die ihr Team bis an die Grenzen fordern. Die Stücke werden größer, schwerer und sind üppig dekoriert. Oft scheint eine ihrer Ideen nicht umsetzbar, doch dann erreicht das Team im Lauf der Arbeit doch das Ziel. Anfragen aus anderen Ländern mit anderen Glasbläsern zusammenzuarbeiten schlägt sie kategorisch aus. Ihre Zusammenarbeit mit dem venezianischen Meister Andrea Zilio und den zwei bis vier „serventi“ der Fornace Anfora ist ihr sehr wichtig, und sie sieht sie als unverzichtbare Bedingung für ihre Arbeit an.

Thimo te Duits 2010, Design Kurator 1995- 2014, Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam, Niederlande

Ritsue Mishima auf Artsy

www.ritsuemishima.com